Plauener Spitze: Zukunft braucht Herkunft

von Andreas Reinhardt

Wie Tradition und Handwerkskunst, verknüpft mit Design und Innovationen, den Laufsteg erobern und neue Marktsegmente für ein etabliertes Unternehmen erschließen 

Juli 2012, Mercedes Benz Fashion Week Berlin – und wieder ruft Deutschlands erste Adresse, alles dreht sich um die Mega-Modetrends für Frühjahr-Sommer 2013. Auf dem Laufsteg zwischen Brandenburger Tor und Siegssäule zeigen die Kreativen den Promis ihre neuesten Couture-Kollektionen. Die Stars des Line-Up sind u.a. Dawid Tomaszewski, Hugo Boss, Michalsky, Irene Luft und Rena Lange.

Das Münchener Couture Label Irene Luft ist wieder mit dabei. Die extravaganten Modelle zeigen üppige Spitzen und Stickereien aus Merino-Wollmischungen auf hauchdünnen Seiden und transparenten Tüllen sowie Applikationen aus filigranen Guipure-Spitzen.

Das Besondere: die exklusiven Stickereien sind allesamt im Haus der Modespitze Plauen entstanden und stehen für die Marke Plauener Spitze. Diese Erzeugnisse galten in der jüngeren Vergangenheit als verstaubt, quasi mit einem Oma-Image belastet. Die Image-Aufwertung über die Mercedes Benz Fashion Week hilft heute bei der Erschließung neuer Märkte.

Der Hintergrund
Um das Ganze besser verstehen zu können, soll an dieser Stelle etwas weiter ausgeholt werden. Textilindustrie und in deren Gefolge der Maschinenbau haben in Sachsen eine lange Tradition, insbesondere in Südwestsachsen mit der Region Plauen Vogtland. Die wirtschaftliche Struktur ist heute geprägt von kleinen Unternehmen. Weniger als 5% der Firmen beschäftigen mehr als 50 Personen. Von den rund 15.000 Unternehmungen in Plauen und dem Vogtland entfallen mehr als drei Viertel auf Dienstleistungen, Handel und Gastronomie. Im Bereich Industrie sind rund 1000 Firmen registriert, darunter bilden die ca. 200 Textilunternehmen die größte Gruppe. Dies hat historische Gründe.

Die Region Plauen gilt seit 1890 als das Zentrum der deutschen Maschinenstickerei. Die Plauener Spitze erlangte ihre Blüte um 1900 und die Region prosperierte vortrefflich, weit über Durchschnitt. In Folge des Booms mit der maschinengestickten Spitze verdoppelte sich die Einwohnerzahl binnen zwei Jahrzehnten, zwischenzeitlich hatte man sogar die höchste Millionärsdichte Deutschlands erreicht. Reichtum machte sich breit, Gründerzeitstimmung vor gut 100 Jahren! Die dann folgenden Wirtschaftskrisen und Weltkriege dämpften den Erfolgszug der stark exportabhängigen Branche.

Heute, mehr als 100 Jahre danach, arbeiten noch rund 600 Beschäftigte in ca. 30 regionalen Stickerei-Unternehmen. Gegenüber der Boom-Zeit dürfte die heutige Branchengröße bei ca. 5% liegen. Ein Teil der heutigen Firmen ist Mitglied im Branchenverband und damit Lizenznehmer der international geschützten Marke Plauener Spitze. So auch die Modespitze Plauen mit der Markenlizenz Nr. 1. Dies ist deshalb nicht ganz unbedeutend, da diese Marke bis heute auf dem Weltmarkt als Gütesiegel für deutsche Qualitätsprodukte etabliert ist und sich auch weiterhin guter Nachfrage in verschiedenen Segmenten als auch Regionen erfreut.
Wesentliches Merkmal der Plauener Spitze ist, dass sie durch eine spezielle Sticktechnologie eine dreidimensionale Gestaltung ermöglicht, welche allen anderen Technologien fremd ist. Diese Innovationen zeichnet das Erzeugnis aus und sorgte dafür, dass die Marke sich auf dem Weltmarkt  etablieren konnte.

Die international geschützte Marke Plauener Spitze steht daher seit über 130 Jahren  als eine der ältesten deutschen Marken für ein deutsches Qualitätsprodukt besonderer Art. Auch die Geschichte der Firma Modespitze Plauen ist mit dieser Historie eng verwurzelt. So schaut das Unternehmen heute auf vier Generationen in der Stickereibranche zurück, welche in der Gründungs- und Boomzeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem direkten Vorfahren Max Bruno Meyer auf Basis erster Handstickmaschinen begann und später mit VOMAG Großstickmaschinen in Plauen expandierte. Unternehmer Meyer spezialisierte sich u.a. auf die Bestickung feiner Seiden und fertigte daraus Morgenmäntel für den indischen Markt.

Neue Handelsstrukturen und Folgen
Nach überdurchschnittlichem Wachstum der kleinen Branche zwischen 1990 und 2001 folgten Jahre der Rezession, welche in Teilen auch auf die veränderte Handelsstruktur und deren Einkaufsverhalten zurückgeht. Der bis dahin bedeutende Großhandel löste sich weitgehend auf und der für den Absatz dominante Facheinzelhandel büßte seine Bedeutung extrem ein, in hiesigem Fall um minus 65%. Ab 1994 dominierten zunehmend neue Vertriebskanäle den Markt, namentlich Versender, Kaufhäuser, Handelsketten, Franchise-Filialen und das Internet. Die Gemeinsamkeit dieser Kanäle: ein zunehmend stärkeres Sourcing in Asien. Dies bewirkte ab 2000 sowohl geringere Umsätze bei gleichzeitiger Stagnation der Preise. Bei Heimtextilien lag beispielsweise die Preissteigerung in den 11 Jahren seit 2001 bei ca. 3%, inflationsbereinigt demnach bei ca. minus 15%.

Dieser Strukturwandel bedingte ab 2005 im Unternehmen deutliche Ausgabenkürzungen, betroffen hiervon waren auch die Bereiche Design, Produktentwicklung sowie Vertrieb (Auslandsmessen). Durch die Vernachlässigung des Designs wurde auch das Image geschwächt, da Produktlinien länger gefahren wurden. Zugleich erhöhte sich so das Durchschnittsalter der produktaffinen Käufer.

Den Wandel beim Image brachten ab 2008 Anstrengungen bei der Gestaltung, zunächst im Bereich Heimtextilien, aber ganz besonders auch die Rückbesinnung auf den Bereich Mode. Die Kooperation unseres Unternehmens mit namhaften Modedesignern geht zurück auf das Jahr 2009. Seither wurden bereits mehr als ein halbes Dutzend Kollektionen in Berlin auf den Laufstegen präsentiert.

An in Deutschland kreierte und damit preislich höher liegende Artikel werden besondere Ansprüche gestellt. Kriterien wie Image, Design, Wertigkeit, Qualität und Exklusivität spielen eine bedeutende Rolle. Überzeugt werden müssen allerdings nicht nur die Konsumenten, sondern zunächst einmal die jeweiligen Entscheider im Einkauf – eine ganz besondere Herausforderung!

Ohne eine positive Image-Beurteilung bei Konfektionären für Damenbekleidung als auch im Einkauf der Handelskonzerne gibt es keinen Absatz. Dank des Engagements auf der Mercedes Benz Fashion Week ist dies in relativ kurzer Zeit gelungen, da die Entscheider für derartige Aktivitäten sehr sensibel sind. Aktuell setzt wieder das Münchner Label Irene Luft verstärkt auf unsere Kollektion Mode und dies kommt in der Fachwelt positiv an. Für die jeweiligen Kunden ist dann entweder das Couturelabel der Designpartner oder aber direkt die Marke Plauener Spitze von Interesse.

Verkauft wird allerdings nicht direkt auf der Messe oder zur Modenschau. Die Entscheidung zugunsten eines Produkts fällt regelmäßig im Dreimonatszeitraum danach. Oftmals werden gezeigte Modelle abgewandelt und auf Kundenbedürfnisse bzw. Zielgruppen angepasst. Nicht selten kommt es erst im 2. oder 3. Anlauf zum Verkauf, manchmal auch mit zwölf Monaten Verzögerung.

Im Ergebnis konnte ein zunehmender Einsatz von  gestickten Zutaten bei unseren Konfektionskunden erreicht werden. Ferner bildete sich ein Netzwerk aus Mode-Designern, Konfektionären, Vertriebspartnern und Einkäufern heraus. Positiver Effekt ist dabei, dass man noch eher an Trends angebunden ist und die eigene Produktentwicklung von den Modegestaltern zunehmend zielgenauer eingebunden wird.

Darüber hinaus wurde seit 2011 auch auf den Aufbau eigener Endprodukte im Bereich Mode gesetzt. Eine Kollektion mit modischen Accessoires für 2013, welche u.a Schals, Schmuck, Stulpen, Leggings, Gürtel, Damenhandtaschen und Shirts umfasst, wurde in ersten Testverkäufen und vom Fachhandel gut angenommen. Aufgrund des höheren Absatzwerts pro Artikel lässt sich so auch der Umsatz über eigene Endprodukte steigern. Denn die sonst an Konfektionäre gelieferten Zutaten machen nur ca. 15-20% des Werts des Endprodukts aus. In der Folge lassen sich zusätzlich auch Privatkunden im Bereich Mode direkt ansprechen. Der deutlich höhere Werbeaufwand im B2C-Geschäft wird durch  bessere Margen im Vergleich zu B2B wieder aufgefangen.

Die Erfolgsformel:

  • Außenwirksame Kooperation mit prestigeträchtigen Designern bringt Promi-Effekte 
  • Zugleich schaffen neue, designorientierte Kreationen (Couture-Effekt) ein modernes Image
  • Tradition und Qualität eines textilen Klassikers Made in Germany bilden die Alleinstellung, welche gleichzeitig der Marke Geschichte und Mythos für die  Aufwertung von Image und Marke gibt
  • Ein breiteres Portfolio macht Produkte aus Spitze bei Konfektionären abseits der Standards interessant und verbessert die Nachfrage

Ergebnis: Die Modespitze Plauen steigert mittelfristig Umsätze bei besseren Margen mit B2B und B2C.

Technische Textilien
Um den mittel- und langfristigen Erfolg zu sichern, wird im Unternehmen noch auf ein zweites Standbein gesetzt: technische Textilien, namentlich der Einsatz technischer Gesticke zur Funktionalisierung von faserverstärkten Kunststoffbauteilen.

Seit 2008 erforscht das Unternehmen gemeinsam mit Partnern rund um die TU Chemnitz die Sensorisierung von Duroplasten (Composites) und Thermoplasten (Spritzguss). Dabei werden mittels Sticktechnik verlegte Sensordrähte in Stärken von 0,03 bis 0,08 mm beispielsweise auf Glasfaser- oder Karbonfasermaterialien mit einer Genauigkeit von 0,5 mm verlegt. Diese Drähte können später mitten im Laminat die exakte Bauteilbelastung wiedergeben. Hierdurch wird die Messung direkt aus der Bauteilmatrix ermöglicht. So entstand 2010 der weltweit erste gestickte Sensor, heute gibt es 35 Demonstratoren für mögliche Anwendungen in den Bereichen Automobil, Windkraft, Medizintechnik, Hygiene und Bau. Ein erstes EU-Patent zum Verfahren wurde 2012 erteilt, eine weitere Erteilung wird für 2013 erwartet.

Warum wird gestickt? Das Verfahren bietet im textilen Bereich maximale Freiheitsgrade bei der Auslegung des Sensorlayouts und bei der Platzierung von Leiterstrukturen und Bauteilen. Soweit textile Halbzeuge als Verstärkungsmaterialien in einem Bauteil zum Einsatz kommen, bietet das Sticken hinsichtlich der weiteren Funktionalisierung dieser Bauteile (z.B.  Sensorintegration) Alleinstellungsmerkmale. Und dies kann durchaus auch effizient sein, denn an den Großstickmaschinen in unserem Haus können bis über 500 Arbeitsstellen gleichzeitig zum Einsatz kommen.

Das Automobil von morgen wird beispielsweise wesentlich mehr Kunststoffe und Textilien enthalten. Der Kunststoffanteil liegt heute bei ca. 15% und wird mittelfristig auf über 25% steigen. Scheiben und Karosseriebauteile aus Kunststoffen setzen sich zunehmend durch. Kraftstoff lässt sich zukünftig maßgeblich durch Reduktion der Masse sparen, basierend auf den Kunststoffen der Zukunft. Heute sind im Auto ca. 20 kg Textil enthalten, bis 2015 wird der Anteil auf 30 kg steigen. Dies wird auch durch glas- und karbonfaserverstärkte Kunststoffe bedingt. Steuergeräte und Sensoren werden dann nicht mehr nur auf Bauteile appliziert, sondern vermehrt strukturintegriert eingesetzt.

Die Entwicklung dieser Sensoren erfolgt in Zusammenarbeit mit Partnern aus fachübergreifenden Bereichen mit speziellem Know-how. Interdisziplinär verknüpft werden die Technologien der Bereiche Textil, Kunststoffverarbeitung, Elektronik, Fügen unter dem Dach der Bauteilkonstruktion auf FEM-Basis.

Mit anderen Worten: jeder der einzelnen Technologiepartner muss in seinem Fachbereich das Rad nicht neu erfinden. Entscheidend ist vielmehr die Kommunikation über Fachbereiche hinweg, um die Potentiale außerhalb des eigenen Tellerrandes wahrnehmen zu können. Die neuartige Verknüpfung an sich fremder Fachbereiche macht den eigentlichen Entwicklungsvorsprung aus. Die Vermarktung der einzelnen Anwendungspotentiale erfolgt unter einer getrennten Firmierung. Hier steht eine Chemnitzer Ausgründung in direktem Kontakt zu potentiellen Anwendern aus den Bereichen Maschinen- und Anlagenbau, Windkraft und Automobil. Die Erfolgsformel basiert auch hier wieder auf Kooperation gepaart mit der Wahl der richtigen, jedoch fachfremden Partner und der Arbeit in einem vertrauensvollen Umfeld.

Ausblick
Der Transformationsprozess im traditionsreichen Textilunternehmen ist noch im vollen Gange, zeitigt jedoch schon erste positive Ergebnisse hinsichtlich neuer Produktgruppen und Vertriebswege als auch bei Image und Forschung. Es bleibt also spannend im textilen Sektor!

Andreas Reinhardt
(*1974) Jura-Studium in Jena und Leuven, dann bei ILO in Genf, seit 2007 Chef der Modespitze Plauen in 4. Generation. a.reinhardt@modespitze.de